Donnerstag, Oktober 11, 2007

Hessisches Kopftuchurteil

P.St. 2016 - Pressemitteilung Wiesbaden, den 10. Dezember 2007
Staatsgerichtshof des Landes Hessen

I. In dem Normenkontrollverfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von
§ 68 Abs. 2 des Hessischen Beamtengesetzes (in der Fassung von Art. 1 Nr. 2 des
Gesetzes zur Sicherung der staatlichen Neutralität) und § 86 Abs. 3 des Hessischen
Schulgesetzes (in der Fassung von Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Sicherung der
staatlichen Neutralität) hat der Staatsgerichtshof heute entschieden:

Die genannten Vorschriften sind mit der Verfassung des Landes Hessen vereinbar.
Die Hessische Verfassung gebietet Beamten und anderen staatlichen Bediensteten,
sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. Es ist mit
dem verfassungsrechtlichen Neutralitätsgebot unvereinbar, wenn Lehrer und Beamte
im Dienst Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale tragen oder verwenden,
die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung zu beeinträchtigen
oder den Schul- oder Dienstfrieden zu gefährden.
Dem Verfahren lag ein Normenkontrollantrag der Landesanwaltschaft zu Grunde. Sie
hielt die Vorschriften für verfassungswidrig und hatte beantragt, sie für nichtig zu erklären.
Der Antrag hatte keinen Erfolg.

II. Mit seinem heutigen Urteil hat der Staatsgerichtshof entschieden, dass die angefochtenen
Vorschriften mit der Hessischen Verfassung vereinbar sind. Sie verstoßen insbesondere
nicht gegen die Glaubensfreiheit (Art. 9 Hessische Verfassung - HV -), die freie Religionsausübung (Art. 48 Abs. 1 HV), das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen
Ämtern (Art. 134 HV) oder das Gebot der Gleichbehandlung von Frau und Mann.

In seiner Entscheidung hat der Staatsgerichtshof klar gestellt, dass sich die angefochtenen
Bestimmungen nicht speziell gegen das islamische Kopftuch richten.
Vielmehr erfassen sie alle religiösen Symbole, die den Eindruck vermitteln können,
dass der Amtsträger, der sie im Dienst verwendet, sein Amt nicht in der gebotenen
Neutralität ausübt. Beim Verbot religiöser Symbole hat der Gesetzgeber die Grundrechte
der Beamten und Lehrer, ihre Religion auch im Berufsleben frei und unbeschränkt
auszuüben, mit Grundrechten Dritter, etwa der Bürger, die die Behörden in
Anspruch nehmen, oder der Schülerinnen und Schüler, ihrer Eltern oder auch der
Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz sowie mit sonstigen Gemeinschaftsgütern
von Verfassungsrang in einen angemessenen Ausgleich gebracht.
Zu den abzuwägenden Grundrechten Dritter zählt in erster Linie das Grundrecht auf
negative Glaubensfreiheit. Dieses Grundrecht gewährt auch Schutz davor, ohne
Ausweichmöglichkeit dem Einfluss religiöser Symbole ausgesetzt zu sein, wenn sie
von Amtsträgern im Dienst getragen werden. Weitere Verfassungsgüter, die bei der
Abwägung zu berücksichtigen waren, sind etwa der Grundsatz der politischen, religiösen
und weltanschaulichen Neutralität des Staates, das staatliche Toleranzgebot
und Beeinflussungsverbot sowie die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums.
Für den schulischen Bereich war es das Erziehungsrecht der Eltern, der staatliche
Bildungs- und Erziehungsauftrag sowie das Interesse an der Aufrechterhaltung
eines geordneten Schul- und Dienstbetriebes. Dazu gehört auch der Schul- und
Dienstfrieden.
Dem Gesetzgeber steht nach der Entscheidung des Staatsgerichtshofs bei der Abwägung
der widerstreitenden Grundrechte der Lehrkräfte und Beamten auf der einen
Seite mit den genannten Grundrechten und Verfassungsgütern auf der anderen Seite ein Beurteilungsspielraum zu. Das gilt auch für die Einschätzung der möglichen Gefahren,
die mit dem Verhalten verbunden sein können, das durch die angefochtenen
Normen verboten wird. Dieser Beurteilungsspielraum ist auch vom Staatsgerichtshof
zu beachten. Er kann nur feststellen, ob sich das Ergebnis dieser Abwägung innerhalb
des verfassungsrechtlich zulässigen Beurteilungsspielraums bewegt. Das hat
der Staatsgerichtshof hier bejaht.
Die Hessische Verfassung gebietet Beamten und anderen staatlichen Bediensteten,
sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. Dieses
verfassungsrechtliche Gebot hat der Gesetzgeber verfassungskonform ausgestaltet
und konkretisiert und dabei die einschlägige bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung
berücksichtigt. Mit dem verfassungsrechtlichen Neutralitätsgebot der
staatlichen Bediensteten ist unvereinbar, wenn im Dienst Kleidungsstücke, Symbole
oder andere Merkmale getragen oder verwendet werden, die objektiv geeignet sind,
das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung zu beeinträchtigen oder den Schuloder
Dienstfrieden zu gefährden. Deshalb war der Gesetzgeber verfassungsrechtlich
nicht gezwungen, auf die individuellen Motive der einzelnen Bediensteten abzustellen.
Der Staatsgerichtshof hatte nicht über eine Beamtin oder Lehrkraft zu entscheiden,
die im Dienst ein Kopftuch tragen wollte. Ihm war nur das Gesetz selbst zur Prüfung
vorgelegt. Anlass der gesetzlichen Regelung war zwar die rechtliche Problematik des
Tragens islamischer Kopftücher im Dienst. Der Gesetzgeber hat bei der Formulierung
des gesetzlichen Verbotes nicht auf das Kopftuch oder ein anderes genau bezeichnetes
Kleidungsstück, Symbol oder Merkmale abgestellt, sondern eine allgemeine
Regelung getroffen. Es ist nicht die Aufgabe des Staatsgerichtshofs, im abstrakten
Normenkontrollverfahren jedes erdenkliche Kleidungsstück, Merkmal oder
Symbol zu überprüfen, das unter das Gesetz fallen könnte. Deshalb war es nicht
Aufgabe des Staatsgerichtshofs, ohne konkreten Anlass im Einzelnen zu bestimmen,
welche Kleidungsstücke, Symbole oder Merkmale – wie z.B. das islamische Kopftuch,
die Bhagwan-Kleidung, auffälliger christlicher Schmuck oder die Nonnentracht
– nach den gesetzlichen Vorschriften verboten sein sollten. Nach dem in der Verfassung
verankerten Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Auslegung des Gesetzes in
erster Linie Aufgabe der Verwaltung, deren Entscheidung die Fachgerichte überprüfen.

Die angegriffenen Normen enthalten auch keine verfassungsrechtlich unzulässige
Privilegierung des Christentums. Die christlich und humanistisch geprägte Tradition
des Landes Hessen spiegelt sich in der gesamten Werteordnung der Hessischen
Verfassung wider. Für den Bereich der Schule und Erziehung kommt dies besonders
anschaulich in Erwähnung der Nächstenliebe in Art. 56 der Hessischen Verfassung
zum Ausdruck. Hierin sieht sich der Staatsgerichtshof im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht
und dem Bundesverwaltungsgericht in ähnlichen Fällen.

III. Fünf Mitglieder des Staatsgerichtshofs vertreten abweichende Meinungen.
Die Mitglieder des Staatsgerichtshofs Georg D. Falk, Paul Leo Giani, Dr. Harald
Klein, Prof. Dr. Klaus Lange und Rupert von Plottnitz treten übereinstimmend der von
der Mehrheit des Staatsgerichtshofs vertretenen Auffassung entgegen, es bedürfe
keiner Entscheidung, ob die zur Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit vorgelegten
Normen das Tragen eines Kopftuchs islamischer Provenienz verbieten und mit
diesem Inhalt mit der Hessischen Verfassung vereinbar seien. Damit ignoriere das
Urteil die vom Landesgesetzgeber unmissverständlich zum Ausdruck gebrachte Regelungsabsicht, mit welcher dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
24. September 2003 (BVerfGE 108, 282) habe Rechnung getragen werden sollen.
Danach ist ein Kopftuchverbot nur auf der Grundlage einer eindeutigen landesgesetzlichen
Grundlage mit dem Grundgesetz vereinbar. Wenn den vorgelegten Normen
ein Kopftuchverbot nicht eindeutig zu entnehmen sei, könne das Tragen eines
islamischen Kopftuchs in den von den vorgelegten Normen erfassten Bereichen in
Hessen nicht verboten werden. Das stünde im Gegensatz zum Willen des Gesetzgebers.
Darüber hinaus seien die den Beamtenbereich betreffende Regelung in § 68 Abs. 2
Satz 2 HBG unvereinbar mit der Hessischen Verfassung. Hierdurch werde allgemein
das religiös motivierte Tragens von Kopftüchern oder von anderen religiösen oder
politischen Kennzeichen verboten. Dies gebe es in keinem anderen Bundesland und
richte sich unterschiedslos an alle hessischen Landesbeamten, ohne nach hoheitlichem
und sonstigem Tätigwerden zu unterscheiden. Grundrechtliche Kollisions- und
Gefährdungslagen hinsichtlich des Grundrechts auf negative Glaubensfreiheit, die
dies rechtfertigen könnten, seien für den Bereich der allgemeinen Landesverwaltung,
also zum Beispiel für beamtete Postbotinnen, Sachbearbeiterinnen im Katasteramt
oder Beamtinnen im mittleren Dienst eines Gerichts, nicht ersichtlich. Selbst wenn
man die Ansicht der Mehrheit teilen würde, dass hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums in Hessen die vorbehaltlos gewährleistete Religionsfreiheit hessischer
Beamtinnen und Beamten einzuschränken vermögen, wäre ein solcher Eingriff
jedenfalls unverhältnismäßig und daher verfassungswidrig. Darüber hinaus stelle es
einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot dar, dass der Gesetzgeber Beamte und
Angestellte - auch bei gleichem Tätigkeitsbereich - verschieden behandelt.
Die Richter Giani, Prof. Dr. Lange und von Plottnitz sehen auch § 68 Abs. 2 Satz 3
des Hessischen Beamtengesetzes und § 86 Abs. 3 Satz 3 des Hessischen Schulgesetzes
als verfassungswidrig an, da diese Normen auf eine verfassungsrechtlich unzulässige
Privilegierung christlich geprägter Kleidungsstücke, Symbole oder anderer
Merkmale abzielten. Die von der Mehrheit vorgenommene inhaltliche Veränderung
dieser Normen im Wege der verfassungskonformen Auslegung müsse daran scheitern,
dass sie deren Wortlaut, ihrem Sinnzusammenhang und der Intention des Gesetzgebers
zuwiderlaufe.
Das Mitglied des Staatsgerichtshofs Prof. Dr. Lange hält darüber hinaus die Auslegung
des § 86 Abs. 3 Satz 2 des Hessischen Schulgesetzes in dem vom Gesetzgeber
gewollten Sinne eines Kopftuchverbots für unvereinbar mit der Hessischen Verfassung.
Sie widerspreche nicht nur der Religionsfreiheit und dem Recht auf gleichen
Zugang zu öffentlichen Ämtern, sondern insbesondere auch dem in Art. 56 Abs. 3
und 4 der Hessischen Verfassung verankerten Toleranzgebot als einem der obersten
Erziehungsgrundsätze der Hessischen Verfassung. Wenn eine Lehrerin auf Grund
ihrer religiösen Überzeugung ein Kopftuch trage, stelle dies für sich allein keine Gefährdung
der Neutralität des staatlichen Unterrichts dar, die vor dem Hintergrund des
Toleranzgebots eine Einschränkung der Religionsfreiheit der Lehrerin und ihres
Rechts auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern rechtfertigen könne. Um des
Schulfriedens willen einer Lehrerin das Tragen eines islamischen Kopftuchs zu verbieten,
sei mit dem Toleranzgebot ebenfalls unvereinbar. Der für die schulische Erziehung
in Hessen geltende Verfassungsgrundsatz der Duldsamkeit sei nicht nur von
den Lehrkräften, sondern auch von Schülern und Eltern zu respektieren.

Das vollständige Urteil (nebst Sondervoten) kann von der Homepage des Staatsgerichtshofs
unter www.staatsgerichtshof.hessen.de abgerufen werden.